Arbeiterliteratur

Arbeiterliteratur
Arbeiterliteratur,
 
ungenaue Bezeichnung einer Literatur, die von Arbeitern geschaffen wurde, ihr Leben darstellt beziehungsweise ihre Interessen (auch im Sinne ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Organisationen) vertritt. Die deutschsprachige Arbeiterliteratur entstand mit der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert Als Vorläufer und Wegbereiter gelten die radikaldemokratischen Autoren des Vormärz H. Heine (Weberlied), G. Herwegh (Lied »Bet' und arbeit'!«, 1864), F. Freiligrath, G. Weerth. Viele Autoren der frühen Arbeiterliteratur waren selbst Arbeiter, die sich meist autodidaktisch weiterbildeten und dann Funktionen in der Arbeiterbewegung übernahmen (z. B. J. Audorf, F. Bosse, F. W. Fritzsche, K. F. E. Frohme, H. Kämpchen, M. Kegel, A. Lepp, in Österreich A. Scheu und J. Schiller). Andere Autoren kamen aus bürgerlichen oder bäuerlichen Lebensverhältnissen (E. Fuchs, W. L. A. Geib, L. Jacoby, M. Kautsky, R. Lavant, A. Otto-Walster, R. Schweichel, J. B. von Schweitzer). Wichtige Mittler und Anreger für die Arbeiterliteratur des 19. Jahrhunderts waren die Arbeiterbildungsvereine und die sozialdemokratische Presse. Ihre Redakteure waren oft selbst Arbeiterschriftsteller (K. Kaiser, E. Klaar, E. Preczang) oder Förderer der Arbeiterliteratur (W. Bracke, W. Dietz). Internationale Anregungen kamen in dieser Zeit von W. Whitman und É. Zola.
 
Zunächst dominierten die kleineren Formen (Arbeiterlieder), Gebrauchs- und Gelegenheitsdichtung, entstanden im Zusammenhang mit proletarischer Festkultur und gedruckt in der Arbeiterpresse (zum Teil sogar in Leitartikelfunktion) sowie in den satirischen Unterhaltungszeitschriften der Sozialdemokratie, »Der Wahre Jakob« und »Süddeutscher Postillion«. Die Sprache ist meist pathetisch, die utopischen Intentionen werden oft im Sprachgebrauch des Marxismus, aber auch des Idealismus vermittelt; beliebt waren Allegorien (Natur- und Festallegorie, mythische Allegorie).
 
Eine wichtige Funktion übernahm seit Ende des 19. Jahrhunderts das Arbeitertheater. Romane und Erzählungen waren in der frühen deutschen Arbeiterliteratur selten (Beispiele bei M. Kautsky, A. Otto-Walster, E. Preczang, R. Schweichel). Größere Wirkung hatten die umfangreiche satirische und unterhaltende Kleinprosa der Arbeiterpresse und der Kalender. Nach der Jahrhundertwende erschienen in rascher Folge die ersten Arbeiterautobiographien (C. Fischer, 1903-05; M. T. W. Bromme, 1905; W. Holek, 1909; A. Popp, 1909; F. Rehbein, 1911; F. Bergg, 1913; J. Peuckert, 1913; H. G. Dikreiter, 1914; A. Bebel, 1910-14, und viele andere).
 
Um 1910 begann eine Neuorientierung der Arbeiterliteratur. Sie lehnte sich nun an moderne literarische Strömungen an (Naturalismus, Neuromantik, später auch Expressionismus), fand ihre Inhalte in Industriearbeit und Großstadt. Ihre Vertreter beanspruchten, als »Arbeiterdichter« die geistige Elite der modernen Gesellschaft zu sein (K. Bröger, H. Lersch, G. Engelke, in Österreich A. Petzold). Auch P. Zech gehört in dieses Umfeld. Unterschiedlich intensiv waren die Beziehungen dieser Autoren zu dem Literaturzirkel »Werkleute auf Haus Nyland« (Nylandgruppe), der um 1912 gegründet wurde. Mythisierung und Heroisierung der Arbeitswelt und des Gemeinschaftserlebnisses (auch des Krieges 1914-18) mündeten für einige Autoren in die Blut-und-Bodendichtung (M. Barthel).
 
Die politischen Kämpfe der Weimarer Republik und die Gründung der KPD gaben auch der Arbeiterliteratur eine neue Richtung. In dezidierter Opposition zu den »Arbeiterdichtern« (die meist in das politische Umfeld der SPD gehörten) entstand eine klassenkämpferische Literatur, deren Ziel die politische Massenagitation im Sinne der KPD war (nach dem Motto von F. Wolf »Kunst ist Waffe«). Direkt aus den Betrieben kamen die Texte der Arbeiterkorrespondenten, die nach sowjetischem Vorbild unmittelbar operativ wirken sollten.
 
Seit 1928, mit der Gründung des kommunistischen »Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« (BPRS, Zeitschrift »Die Linkskurve«), verstärkte sich die Abgrenzung zu den sozialdemokratischen Autoren. Die proletarisch-revolutionäre Literatur brachte Anfang der 30er-Jahre zahlreiche Romane hervor, die - trotz zuweilen vordergründiger agitatorischer Absicht - detailreich und farbig über das zeitgenössische Arbeiterleben erzählen (H. Marchwitza, W. Bredel, K. Grünberg, A. Scharrer u. a.). Bald danach (1934) wurden mit Verkündigung der Doktrin des sozialistischen Realismus die Schriftsteller des BPRS diesem Konzept verpflichtet. Vorbild war nun v. a. M. Gorkij.
 
Die Machtergreifung des Nationalsozialismus trieb viele Autoren der Arbeiterliteratur ins Exil (O. Krille, K. Kläber, J. Zerfass, B. Schönlank, H. Dohrenbusch, P. Zech, W. Bredel, H. Marchwitza, A. Scharrer u. a.). Die meisten Werke der Arbeiterliteratur wurden verboten, manche Texte, besonders die der »Arbeiterdichter«, wurden von den Nationalsozialisten umfunktioniert und der nationalsozialistischen Arbeitsliteratur subsumiert (Bröger, Lersch, Engelke u. a.). Nur wenige Verfasser von Arbeiterliteratur stellten sich in den Dienst des Nationalsozialismus (Barthel, Lersch).
 
In der DDR wurde mit dem »Bitterfelder Weg« (seit der 1. Bitterfelder Konferenz 1959) der programmatische Versuch der Entwicklung einer speziellen Arbeiterliteratur unternommen (Bewegung schreibender Arbeiter; »Greif zur Feder, Kumpel«), der auf der 2. Bitterfelder Konferenz wesentlich revidiert und schließlich Anfang der 70er-Jahre ganz aufgegeben wurde.
 
In der Bundesrepublik Deutschland kam es 1961 zur Gründung der (Dortmunder) Gruppe 61 und 1970 zur Gründung des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt. Auch außerhalb des »Werkkreises« wurde das Thema Arbeitswelt literarisch bearbeitet (Autoren: C. Geissler, W. Köpping, J. Reding, W. Bittner, H. D. Baroth, P. Maiwald, A. Kühn u. a.). Seit den 70er-Jahren übernahmen Dokumentarberichte und Reportagen die Funktion der Arbeiterliteratur (G. Wallraff). In der Gegenwart gibt es kaum noch nennenswerte deutsche Arbeiterliteratur im traditionellen Verständnis.
 
 
J. Bab: Arbeiterdichtung (1924, Neuausg. 1930);
 C. Rülcker: Ideologie der Arbeiterdichtung. 1914-1933 (1970);
 P. Kühne: Arbeiterklasse u. Lit. (1972);
 G. Fülberth: Proletar. Partei u. bürgerl. Lit. (1972);
 
Arbeiterdichtung. Analysen, Bekenntnisse, Dokumentationen (1973);
 U. Münchow: Frühe dt. Arbeiterautobiogr. (Berlin-Ost 1973);
 G. Stieg u. B. Witte: Abriß einer Gesch. der dt. A. (1973);
 
Lit. im Klassenkampf hg. v. W. Fähnders u. M. Rector (Neuausg. 1974);
 B. Greiner: Von der Allegorie zur Idylle. Die Lit. der Arbeitswelt in der DDR (1974);
 M. H. Ludwig: A. in Dtl. (1976);
 F. Trommler: Sozialist. Lit. in Dtl. (1976);
 
Hb. zur dt. A., hg. v. H. L. Arnold, 2 Bde. (1977);
 R. Dithmar: Industrie-Lit. (21977);
 K. Nowak: Arbeiter u. Arbeit in der westdt. Lit. 1945-1961 (1977);
 P. Zimmermann: Industrie-Lit. der DDR (1984);
 K.-M. Bogdal: Zw. Alltag u. Utopie. A. als Diskurs des 19. Jh. (1991);
 
Literatur u. Arbeiterbewegung, hg. v. H. Arlt u. M. Ludwig (1992).

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Ạr|bei|ter|li|te|ra|tur, die: vgl. ↑Arbeiterdichtung.

Universal-Lexikon. 2012.

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